Die letzte Minute von Joseph Monroe
Es beginnt.
60
Die Menschen unter mir tanzen zwischen Euphorie und Wahn.
59
Ein neues Jahrtausend beginnt und ich werde endlich Ruhe finden.
58
Als ich geboren wurde, starb meine Mutter im Kindsbett und mir wurde prophezeit: „Er wird tausend Jahre leben.“
57
Geboren in der Sekunde zwischen zwei Millennien, werde ich nun im gleichen Moment tausend Sekunden später von dieser Welt gehen.
56
Die Menge johlt und kreischt und ich weiß nicht, was ich empfinden soll.
55
Viele würden wohl Angst erwarten.
54
Aber ich kenne den Tod.
53
Seit meinem siebzehnten Lebensjahr vergeht kaum ein Jahr, ohne dass er versucht mich zu holen.
52
Aber ich fand immer einen Weg zurück.
51
Es wird Zeit, dass dem nicht mehr so ist.
51
Wenn man den Zeitpunkt seines Endes kennt, dann hat man genug Zeit sich zu verabschieden.
50
Dann fällt es einem irgendwann nicht mehr schwer.
49
Der Abschied von Menschen vielleicht, aber ich habe nicht ohne Grund das letzte Jahr über ein einsames Leben geführt.
48
So geht alles leichter.
47
Meine Gedanken schweifen für einen Moment durch die Zeit und ich denke an jene zurück, die ich einst wirklich geliebt habe.
46
Katharina, meine erste Frau, die kannte, bevor ich wusste, welches Schicksal mich erwartet.
45
Die verstoßen wurde, nachdem ich einem schweren Fieber nicht erlag und man sie bezichtigte dahinter zu stecken.
44
Du wolltest mit mir auf Wanderschaft gehen, aber es war dir nicht lange vergönnt.
43
Raoul, der nur für wenige Moment in meinem Leben war.
42
Dennoch: keinen hab ich mehr geliebt als dich.
41
Wegen niemandem mehr getrauert.
40
Camille, niemals war jemand länger an meiner Seite als du.
39
Es war schmerzvoll dich altern zu sehen und wie sehr ich mir doch damals wünschte, dass die Zeit auch an mir fräße.
38
Hätte es nur die geringste Möglichkeit gegeben euch an meinem Zustand teilhaben zu lassen.
37
Ich hätte es getan.
36
Doch nie habe ich erfahren, was mich am Leben hielt.
35
War es wirklich nur der schiere Wille am Leben zu bleiben, wie es Camille einst mutmaßte?
34
Das nicht zu wissen, niemals zu wissen, ist eines der wenigen Dinge, die ich bereue.
33
Eine der wenigen, tatsächlich verpassten Chancen.
32
Ansonsten gibt es nicht viele.
31
Ich habe so viel gesehen, so viel gespürt, so viel erlebt, dass es für hundert Leben reicht.
30
Ich bin gewesen, wer ich sein wollte und wie lange ich er sein wollte.
29
Doch zu welchem Preis?
28
Es ist richtig, ich habe viel erlebt, jedoch auch viele Leichen auf meinem Weg hinterlassen.
27
Mein Geheimnis musste bewahrt werden, notfalls mit Gewalt.
26
Oft muss ich fliehen und jene die mir zu Seite standen mussten letztendlich leiden.
25
Nie werde ich den Moment im Graben vergessen, als wir die gelben Dämpfe näherkommen sahen.
24
Ich hätte keine Maske gebraucht, hätte keine Maske nehmen sollen.
23
Stattdessen musste ein weiterer junger Hurrapatriot sinnlos qualvoll sterben.
22
Ich habe versucht Buße zu tun.
21
Aber ist das überhaupt bei so vielen Sünden noch möglich?
20
Camille würde sagen ja.
19
Raoul würde nie die Notwendigkeit für eine Beichte sehen.
18
Katharina würde mich verstoßen.
17
Ich muss lächeln, bei dem Gedanken sie alle vielleicht wieder zu sehen.
16
Und auch bei dem Gedanken, mich nie wieder schuldig fühlen zu müssen.
15
Schuldig, dafür dass ich Leben darf und andere sterben müssen.
14
Der Countdown neigt sich dem Ende zu.
13
Die Anspannung steigt.
12
Viele haben Angst, dass die Systeme den Wechsel der Millennien nicht verkraften können.
11
Dass alle Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts verloren gehen werden.
10
Aber ich habe den Aufbau der heutigen Gesellschaft miterlebt.
09
Ich weiß, dass nichts sie zu Fall bringen kann, außer der Mensch selbst.
08
Und selbst wenn, vor tausend Jahren hat es auch funktioniert.
07
Und es ist erschreckend, wie wenig sich der Mensch in Entscheidenden Punkten nicht verändert hat.
06
Nein, niemand braucht Angst zu haben.
05
Auch ich nicht.
04
Gleich ist es vorbei.
03
Ich atme tief ein, inhaliere noch ein letztes Mal die Schönheit dieser Welt, dieses Lebens.
02
Werfe einen letzten Blick auf den leuchtenden Ball, kurz bevor er endgültig fällt.
01
Das Millennium macht sich bereit zu springen.
00
Ich tue es ihm gleich.